IGF-1, IGFBP-3 und der „Quotient"
Ein neuer Blick auf Wachstum, Alterung und Balance
Von den Hormonlabors in die Longevity-Medizin
Lange Zeit war der Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1) vor allem ein Marker aus der Endokrinologie – er hilft, Wachstumsstörungen oder Akromegalie zu diagnostizieren. Inzwischen rückt er jedoch in den Fokus der Longevity-Medizin, weil er als biologischer Schalter zwischen Zellwachstum, Regeneration und Alterungsprozessen gilt.
Dabei taucht in immer mehr Laborbefunden ein zusätzlicher Wert auf: der IGF-1/IGFBP-3-Quotient. Er soll anzeigen, wie aktiv die IGF-Achse tatsächlich ist – ähnlich wie man beim Testosteron das Verhältnis zu SHBG (Sex-Hormone-Binding-Globulin) kennt.
Was misst man da eigentlich?
IGF-1 wirkt im Körper als starkes Wachstums- und Anabol-Signal. Damit es nicht unkontrolliert aktiv ist, wird es im Blut von einer Familie aus sechs Bindungsproteinen (IGFBP-1 bis -6) reguliert.
Das IGFBP-3 ist das wichtigste davon: Es bindet etwa 95 % des gesamten IGF-1, meist zusammen mit einer dritten Komponente, der acid-labile subunit (ALS).
Dieser ternäre Komplex wirkt wie ein Transport- und Speicherreservoir: Er verlängert die Halbwertszeit von IGF-1 erheblich, hält es aber zunächst in einer nicht-aktiven Form.
Nur < 1 % des IGF-1 liegt „frei" vor und kann den IGF-1-Rezeptor aktivieren – das ist die biologisch wirksame Fraktion, die zelluläre Wachstums- und Reparaturprozesse, aber auch mTOR-Signalwege antreibt.
Was sagt der IGF-1/IGFBP-3-Quotient aus?
Der Quotient ist keine exakte Messung des „freien IGF-1", sondern eine funktionelle Näherung der Achsenaktivität:
Hoher Quotient
Viel IGF-1 pro Bindungskapazität → starkes Signal („anaboler Druck")
Niedriger Quotient
Wenig IGF-1 pro Bindungskapazität → gedämpftes Signal („longevity-günstig")
Er ist damit ein Surrogat für die Bioaktivität der GH/IGF-1-Achse – also für die Intensität, mit der Wachstum und Zellproliferation im Organismus stimuliert werden.
Warum wird das für Longevity plötzlich interessant?
IGF-1 steht in enger Verbindung zum mTOR-Signalweg, einem zentralen Regulator für Zellwachstum, Eiweißsynthese und Stoffwechsel. Übermäßige, dauerhafte Aktivierung von mTOR wird mit beschleunigtem Altern, Insulinresistenz und erhöhter Tumorinzidenz assoziiert.
Deshalb wird in der Longevity-Medizin – beeinflusst u. a. durch Forscher wie Valter Longo – ein moderat gedämpftes IGF-1-Signaling angestrebt: genug, um Muskeln und Organe zu erhalten, aber nicht so viel, dass dauerhafte Wachstumsreize entstehen.
Was zeigen die Studien?
Mehrere große epidemiologische Untersuchungen fanden, dass ein hoher IGF-1/IGFBP-3-Quotient mit einem erhöhten Risiko für bestimmte Krebsarten einhergeht:
Giovannucci et al., JNCI 2000
Männer im höchsten Quartil des Quotienten hatten ein 2-fach erhöhtes Risiko für Prostatakarzinom.
Kaaks et al., IJC 2002
Hoher Quotient war bei Frauen mit Brustkrebs-Inzidenz assoziiert.
UK Biobank 2020 (≈ 400.000 Teilnehmer)
Hoher IGF-1 und hoher Quotient korrelierten mit erhöhtem Risiko für Darm- und Gesamt-Krebsmortalität.
Auf der anderen Seite der „U-Kurve" zeigen sehr niedrige Werte vermehrt Frailty, Muskelschwäche und osteosarkopenische Veränderungen – also nicht Krebs, sondern funktionellen Substanzverlust.
Die U-förmige Balance: zwischen Krebs und Frailty
Man kann sich die Beziehung als U-förmige Kurve vorstellen:
Linke Seite (zu niedrig)
Schwäche, Muskelabbau, Osteopenie, Frailty
Rechte Seite (zu hoch)
Dauerhafte Zell- und mTOR-Aktivierung, erhöhtes Krebsrisiko
Ziel ist also nicht Minimalismus, sondern Balance: Ein moderat niedriger Quotient, bei dem Wachstumssignale reduziert sind, aber Kraft, Muskelmasse und Energielevel erhalten bleiben.
Unsere Praxis-Strategie
Wir orientieren uns an diesem Gleichgewicht:
„Low signaling – high function"
Für die Krebsprävention bevorzugen wir einen niedrigen bis moderaten IGF-1/IGFBP-3-Quotienten, um die mTOR-Aktivität im physiologischen Rahmen zu halten.
Gleichzeitig überwachen wir Frailty-Marker in Echtzeit:
Handkraft, 1-Rep-Max, DEXA- oder BIA-Körperzusammensetzung, VO₂max, Osteodensitometrie.
Bleiben diese stabil oder verbessern sich, besteht kein Grund zur Sorge vor zu niedrigem IGF-1.
So lässt sich das Langzeitrisiko (Krebs) minimieren, ohne kurzfristige Vitalität oder Muskelkraft einzubüßen.
Stellschrauben für die Balance: Was können wir tun?
Die gute Nachricht ist: Der IGF-1/IGFBP-3-Quotient ist nicht in Stein gemeißelt. Zwar spielen genetische Faktoren eine Rolle, aber unsere Lebensstil-Interventionen haben einen messbaren Einfluss auf die Signalwege.
In unserer Praxis setzen wir auf Strategien, die sowohl auf solider inferentieller Evidenz (logische Ableitung aus der Biologie) als auch auf spannenden klinischen Daten basieren, um den Quotienten sanft zu modulieren:
Insulin-Management als Basis
Da Insulin die IGF-Produktion in der Leber direkt antreibt, nutzen wir Continuous Glucose Monitors (CGM) und eine überwiegend pflanzenbasierte Vollwertkost (WFPB). Das Ziel: Blutzuckerspitzen identifizieren und glätten, um dem System den ständigen Wachstumsreiz zu nehmen.
Protein-Qualität vor Quantität
Nicht jedes Protein wirkt gleich. Wir prüfen kritisch den Konsum von Kasein (Milchprotein), das als starker IGF-Treiber gilt. Auch bestimmte Aminosäuren wie Methionin und Leucin – so wichtig sie für den Muskelaufbau sind – können im Übermaß die Alterungsprozesse beschleunigen. Hier gilt es, das richtige Maß zu finden.
Phytochemische „Helfer"
Bestimmte Nahrungsmittel zeigen in Studien das Potenzial, die IGF-Achse günstig zu beeinflussen. Dazu gehören gekochte Tomatenprodukte (wegen des hohen Lycopin-Gehalts) oder gezielte Supplementierungen mit Lycopin, Curcumin und Grüntee-Extrakten.
(Optional setzen wir in spezifischen Einzelfällen auch hochdosiertes Resveratrol ein, wenngleich wir hier zurückhaltender sind und andere Substanzen bevorzugen.)
Wichtig: Es gibt hier kein „One-Size-Fits-All". Ob und wie stark wir diese Hebel in Bewegung setzen, hängt von Ihrer individuellen Position auf der U-Kurve und Ihren aktuellen Frailty-Markern ab. Das besprechen wir detailliert anhand Ihrer Laborwerte.
Fazit
Der IGF-1/IGFBP-3-Quotient ist kein Modewert, sondern ein zunehmend nützliches Werkzeug, um die Balance zwischen Wachstum und Erhaltung im Blick zu behalten.
Zu hoch: Übermäßige anabole Signalität, erhöhtes Krebsrisiko
Zu niedrig: Risiko für Muskelschwäche – aber klinisch gut messbar und steuerbar
Optimal: Moderat niedriger Quotient bei stabiler körperlicher Leistungsfähigkeit
Oder anders gesagt:
„Wachstum dort, wo es sinnvoll ist – Ruhe dort, wo es schützt."
Weiterführende Literatur & Wissenschaft
Für alle, die tiefer in die biochemischen Hintergründe eintauchen möchten, haben wir hier eine Auswahl der relevantesten Studien zusammengestellt, auf die wir uns in diesem Artikel und unserer Praxisarbeit beziehen.
1 Die biologischen Grundlagen (Aging & mTOR)
The Hallmarks of Aging: An Expanding Universe (2023)
López-Otín et al., Cell.
Das Standardwerk der Altersforschung. Hier wird erklärt, wie „die gestörte Nährstoffsensorik" (inkl. IGF-1 und mTOR) als einer der zentralen Treiber des Alterns fungiert.
Link zur Studie (PubMed) →mTOR signaling in growth, metabolism, and disease
Saxton & Sabatini, Cell (2017).
Eine detaillierte Übersicht darüber, wie der mTOR-Signalweg Wachstum steuert und warum eine Überaktivierung mit Krankheitsprozessen assoziiert ist.
Link zur Studie (PubMed) →2 IGF-1, Proteinaufnahme und Krebsrisiko
Low Protein Intake is Associated with a Major Reduction in IGF-1, Cancer, and Overall Mortality in the 65 and Younger Population
Levine, Valter Longo et al., Cell Metabolism (2014).
Eine der wichtigsten Studien der letzten Jahre (aus dem Labor von Prof. Valter Longo), die den Zusammenhang zwischen tierischem Protein, hohem IGF-1 und der Mortalität beim Menschen aufzeigt.
Link zur Studie (PubMed) →IGF-1, IGFBP-3 and Cancer Risk (UK Biobank Study)
Knuppel et al., Cancer Res (2020).
Eine massive Analyse mit Daten von fast 400.000 Teilnehmern, die bestätigt, dass hohe IGF-1-Werte mit einem erhöhten Risiko für verschiedene Krebsarten korrelieren.
Link zur Studie (PubMed) →3 Interventionen (Ernährung & Lycopin)
Long-term effects of calorie or protein restriction on serum IGF-1 and IGFBP-3 concentration in humans
Fontana et al., Aging Cell (2008).
Diese Studie der Washington University zeigte, dass Proteinrestriktion beim Menschen effektiver ist als reine Kalorienrestriktion, um den IGF-1-Spiegel signifikant zu senken.
Link zur Studie (PubMed) →Effect of lycopene supplementation on IGF-1
Walfisch et al. Eur J Canc Prev. 2007 Aug.
Klinische Untersuchungen, die Hinweise darauf liefern, dass Lycopin (aus Tomaten) die IGF-Achse modulieren und die den IGF-1/IGFBP3 Quotienten reduzieren kann.
Link zur Studie (PubMed) →